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Tinnitus

Tinnitus

An art work by Dean Ruddock

video edition by

Margarita Valdivieso

Tinnitus

                                                                                                                                                                                                                                                               [Im Hintergrund: Piepton / Sonar]

 

Was ist der Unterschied zwischen nicht wissen, nicht wahrhaben und vergessen? Was wir vergessen, haben wir einmal gewusst.
Was wir nicht wissen, können wir lernen.
Was wir nicht wahrhaben, ist auch eine Wahl.

Was wir nicht wählen, wollen wir nicht – weil wir nicht müssen.
Wer verstehen will, muss fühlen, um die Wiederholung zu durchbrechen.

 

 

Was wir tagtäglich wahrnehmen, nehmen wir wiederholt war.

Was wir wiederholt wahrnehmen, studieren wir ein.

Wiederholung ist der Schlüssel zur Gewohnheit.

Was wir gewohnt sind, nehmen wir als gewöhnlich war.

 

 

ge|wöhn|lich

(Adjektiv)

Kann heißen:

  1.  durchschnittlichen, normalen Verhältnissen entsprechend; durch keine Besonderheit hervorgehoben oder auffallend; alltäglich, normal; wie in:

    •   ein [ganz] gewöhnlicher Tag

    •   im gewöhnlichen Leben

  2. gewohnt, üblich

    •   zur gewöhnlichen Zeit

    •   sie gehen wieder ihrer gewöhnlichen Beschäftigung nach

    •   er steht [für] gewöhnlich (üblicherweise, in der Regel) sehr früh auf

    •   es endete wie gewöhnlich (wie meist, wie sonst auch immer)
       

    • Thesen:                                                                                                                           1. „Normal“ ist durch Gewohnheit, also durch Wiederholung, erlernt und somit normalisiert.

         2. Wir können zeitweise oder auch dauerhaft ausblenden, was wir als normal empfinden,                    einfach weil es immer da ist, wie z. B. den blauen Himmel, oder einen Tinnitus, den man                     irgendwann nicht mehr bemerkt, oder erst, wenn es ganz still ist.

 

Ein Versuch, zu navigieren, eine

                                                             Topografie:

 

Ich stehe
              auf einer Landkarte

                                           zwischen Grenzen und Wänden aus Glas

              mittels akustischer Signale versuche ich den Weg zu finden

Ich sende

             empfange

                          erfahre
                                    eine Positionierung

                                                                ein Verhältnis
                                                                                    eine Konstellation

                                                                                                              Ich spreche

...zur Bestimmung des Ortes.
Zur Orientierung im Raum nutzen verschiedene Wesen das Prinzip der Echoortung; sie senden ein Signal, z. B. eine Schall- oder Radiowelle und können durch die mehr oder minder bewusste Analyse der reflektierten Wellen ihre Distanz ermitteln. Funktioniert das auch im sozialen Raum?

Ich glaube ja. Nun sind Worte Avatare unserer Gedanken. Ausgesandt, um die Umgebung zu erkunden. Kommen sie in irgendeiner Form zurück, so spüren wir die Abstände zwischen uns und allem anderen durch Antworten, wenn man so will, oder wir erfahren überhaupt erst von der Präsenz eines Gegenübers, eine*r Empfänger*in.

Wie du in den Wald hineinrufst, so kommt es nicht wieder heraus. Das Echo verläuft und verändert sich irgendwo auf dem Weg. Aber ähnlich wie Schatten uns über die Konturen unserer Umgebung oder einzelner Objekte aufklären, vermag ein Echo uns zunächst etwas über die Tiefe eines Resonanzraumes mitzuteilen.

Das Echo eines Raums verrät uns nicht nur etwas über seine Beschaffenheit, sondern konserviert und verfremdet das Gesagte auch für wenige Augenblicke und lässt uns das Gesagte – aus Mangel an einer besseren Metapher – noch einmal unter einem Zerrspiegel betrachten.

 

                         Wie heißt der Bürgermeister von Wesel? [Stereo-Delay: Esel]

 

 

Ein verzerrter, ins Ohr geworfener Schatten. Unser Gehörgang ein Labyrinth. Eine unter Umständen langwierige – aber sichere – Strategie durch ein Labyrinth zu finden, ist das Ablaufen jeder Wand. So tastet das Echo sich auf dem Weg durch deine Ohrmuschel, an einer Wand aus Haut und Knochen entlang und hinterlässt schlussendlich eine Ahnung im Kopf. Deine Ohren sind hoffentlich sauber. Ich hoffe, es ist ok, wenn ich dich dutze.

 

 

Nun möchte ich dich bitten, mich zu begleiten. Folge meiner Stimme und wir sehen, wo wir ankommen und was zurückkommt.

 

 

[Soundmorphing: Sonar wird von Geigen, Streichquartett Nr. 1 e-Moll „Aus meinem Leben“, unterbrochen. Geigen werden zu Mückensummen, Mouches volantes...]

 

 

 

Glaskörperflocken

 

 

Schaut man in den blauen Himmel, dann sieht man Glaskörperflocken. Das sind diese schwerelosen Objekte in unseren Augen, am besten sichtbar auf hellblauem Hintergrund. Mit dem Blick kaum zu greifen, als würden sie ausweichen. Sie zu sehen vergessen wir, immer wieder, wie die Farbe von Papier, oder das Lesen von Regen als den Klang der Schwerkraft. Verzeihlich: Dieses Vergessen. Schmerzhaft: Die Erinnerung an Schulhof und Schürfwunden, der Geschmack von Kruste – wie getrocknete Münzen im Mund.

Erinnerst du dich; wann hast du angefangen, dich selbst im Spiegel zu erkennen? Als einer der einen oder anderen zu benennen? Wer gab deiner Haut welchen Namen? Warum? Es gibt viele Namen für das, was ich bin, aber keiner gefällt mir – sie alle machen mich sprachlos, weil mir keiner von ihnen entspricht. Stets irgendwas dazwischen, – Bindestrich – darüber hinaus, entscheidend ist: Die Worte der Alten reichen dafür nicht aus.

In Stroboskop-Licht scannt man nach mir als wäre ich ein Barcode, aus Ebenholz und Elfenbein; gerade weiß genug, um Leinwand zu sein; auf ihr laufen die Klassiker: „Woher kommst du?“ Und „Woher kommst du wirklich?“ Aber auch neuere Produktionen wie „Du siehst aus wie ein Chinese“ Und „Hey, du siehst aus wie ein Araber“ Ganz neu im Programm, von den Machern von „Das war nicht so gemeint“: „Bist du Moslem?“ – Alle Hauptrollen werden gespielt von Elyas M’Barek.

Denn egal zu welchem Anlass ist das Hauptmerkmal „irgendwie anders“, denn ich stehe (ein wenig wackelig) auf Migrationsuntergrund, umarme den deutschen Herbst mit meinen Lungen – Echokammern spiegeln transparente Glaskörperflocken. Man sagt, es beginne mit Scherben, aber vor genau wie vielen Wochen ist die erste Scheibe zerbrochen? Mit welcher Schlagzeile? In welchem Häuserblock? Hattest du im besagten Moment etwas im Auge? Wenn ja, woher weißt du dann, dass du es nicht auch in der Hand hattest? Alles gut. Solange du dich duckst, trifft dich keine Schuld.

Das hat etwas Zyklisches: Immer wieder, zu jeder Jahreszeit, mit quarzklarer Wahrscheinlichkeit, geht ein Stück Glas kaputt und wird nicht repariert. Wir haben gelernt das zu vergessen, wie die Farbe von Papier, oder diesen einen letzten Gedanken, bevor wir wirklich einschlafen, den ersten Gedanken am Morgen, den Geschmack der eigenen Zähne. Es rasselt in meinem Innern. Da sind Kristallsplitter in meiner Lunge... Aber alles ist gut.

Ich übertreibe vielleicht und habe da nur was im Auge.

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